Der alte Lehrer
Einst fuhr Rabbi Jaakob Jizchak mit einigen Schülern und Begleitern nach einer fernen Stadt. Es war Freitag mittags, und sie mußten schon nah am Ziel sein, als sie an einen Scheideweg kamen. Der Fuhrmann fragte, welche Richtung er einschlagen solle; der Rabbi wußte es nicht und sagte: »Laß die Zügel hängen und die Pferde gehn, wohin sie wollen.« Nach einiger Zeit erblickten sie die ersten Häuser einer Stadt; aber sie erfuhren bald, daß es eine andre war. »Nun ist es aus mit dem Rabbitum«, sagte der Lubliner. »Wie sollen wir es aber anstellen«, fragten die Schüler, »um über Sabbat Speise und eine Ruhestatt zu bekommen, wenn wir nicht eröffnen dürfen, wer Ihr seid?« Es war nämlich des Zaddiks Brauch, daß er von den Geldgaben, die ihm gebracht wurden, nicht eine kleine Münze über Nacht behielt, sondern alles den Armen austeilte. »Laßt uns ins Bethaus gehen«, sagte er, »da wird jeder von uns von irgendeinem Hausherrn als Sabbatgast mitgenommen werden.« Und so geschah es, bis das Bethaus sich geleert hatte. Aufblickend sah er nur noch einen etwa achtzigjährigen Mann dasitzen. Der fragte ihn: »Wohin geht Ihr zur Sabbateinweihung?« »Ich weiß es nicht«, antwortete der Zaddik. »Geht nur in die Herberge«, sagte der Alte, »und nach dem Ruhetag will ich Geld für Eure Zeche sammeln.« »In der Herberge«, entgegnete Rabbi Jaakob Jizchak, »kann ich nicht den Sabbat einweihen, weil sie dort den Segen über die Lichte nicht sprechen.« Der Alte sagte zögernd: »In meinem Haus ist nur ein wenig Wein und Brot für mich und mein Weib.« »Ich bin kein Schlemmer«, versicherte der Lubliner. So gingen sie 25 zusammen. Der Alte sprach den Segen über den Wein und darauf der Rabbi. Nach dem Segensspruch über das Brot fragte der Greis: »Woher seid Ihr?« – »Aus Lublin.« – »Und kennt Ihr ihn?« – »Ich bin stets bei ihm.« Da bat der Alte mit zitternder Stimme: »Erzählt mir etwas von ihm.« »Warum begehrt Ihr das so sehr?« fragte der Zaddik. »Ich war«, berichtete jener, »in jungen Jahren Schulhelfer, und er war eins der Kinder, auf die ich zu achten hatte. Es waren keine sonderlichen Gaben an ihm zu bemerken. Und nun habe ich vernommen, daß er ein Großer geworden ist. Seither faste ich einen Tag in jeder Woche, daß ich gewürdigt werde, ihn zu schauen. Denn ich bin zu arm, um nach Lublin fahren, und zu schwach, um hingehen zu können.« »Und besinnt Ihr Euch noch auf etwas aus jener Zeit?« fragte der Rabbi. »Tag für Tag«, sagte der Alte, »mußte ich nach ihm suchen, wenn ich ihn zum Gebetbuch rief, und fand ihn nie. Nach einer guten Weile kam er stets von selbst, und dann schlug ich ihn. Einmal paßte ich ihm auf und ging ihm nach. Da sah ich, er saß im Wald auf einem Ameisenhaufen und schrie: ›Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Eine Herr!‹ Fortan habe ich ihn nicht mehr geschlagen.«
Nun verstand Rabbi Jaakob Jizchak, warum ihn seine Pferde in diese Stadt gebracht hatten. »Ich bin es«, sagte er. Als der Alte dies hörte, fiel er in Ohnmacht und konnte nur mit Mühe wiederbelebt werden. Nach Sabbatausgang ging der Zaddik mit seinen Schülern aus der Stadt, und der Alte gab ihm das Geleit, bis er müde ward und umkehren mußte. Er kam heim, legte sich hin und starb. Indessen saß der Rabbi mit den Seinen in einem Dorfwirtshaus beim Mahl der Sabbatnachfeier.
Nach dem Mahl erhob er sich und sprach: »Wir wollen in die Stadt zurück, um meinen alten Lehrer zu bestatten.«